ANDREAS NIEDERMAIER
UND LANDRAT
FRANK MATIASKE
DIE CHANCEN LIEGEN
VOR UNSERER HAUSTÜR
Das ,,große Ganze“ ist schwer zu überblicken. Und noch schwerer zu bewegen. Umso besser, dass die Zukunft schon in der unmittelbaren Umgebung, in der eigenen Heimatregion, beginnt. Ganz konkret und ganz praktisch – wie die Begegnung von Energieversorger und Kommunalpolitik beweist. Ein Gespräch zwischen ENTEGA-Vorstand Andreas Niedermaier und Frank Matiaske, Landrat für den Odenwaldkreis.
,,Auch auf dem Land dreht sich alles um die globalen Fragen.“
Frank Matiaske

Herr Matiaske, Sie sind Landrat für den Odenwaldkreis. Also: für eine eher ländlich geprägte Region, in der es ruhig zugeht. Wie erleben Sie und die Menschen hier unsere von zahlreichen Krisen geprägte Zeit?

F.M. Unser Kreis hat zwar eine reizvolle, idyllische Landschaft, auf die wir auch sehr stolz sind und in der wir uns sehr wohlfühlen, der Kreis ist aber besonders auch ein wichtiger Wirtschaftsstandort mit vielen produzierenden Firmen, gerade aus der Kunststoff- und Kautschukbranche, die besonders energieabhängig sind. Insofern sind die aktuellen Themen zur Energiesicherheit und Preisstabilität natürlich auch unsere Themen. Und das mit der Ruhe sieht aus städtischer Perspektive vielleicht so aus. Aber der Eindruck kann täuschen. Gerade die zurückliegenden drei Jahre waren alles andere als beschaulich. Vor allem mit der Corona-Pandemie hatten wir sehr zu kämpfen. Wir grenzen ja an Bayern und Baden-Württemberg. Und da gab es am Anfang sehr viel mehr Infektionsfälle als in Hessen. Gerade in unseren Altenheimen und Krankenhäusern haben wir das sehr zu spüren bekommen. Und obwohl wir diese Themen dann gut in den Griff bekommen haben, befinden wir uns gefühlt seit Anfang 2020 im Dauerkrisen-Modus.

Und können Sie da der vielfach zitierten Binsenweisheit noch etwas abgewinnen, die behauptet, dass in jeder Krise auch eine Chance steckt?

F.M. Merkwürdigerweise ja. Zum Beispiel bringt es das Amt des Landrats normalerweise mit sich, dass man sich immer um zahlreiche Themen gleichzeitig kümmern muss. Es gibt dauernd Neues. Die Vielzahl der Aufgaben versetzt einen gar nicht in die Lage, den Projektstart, die Meilensteine während des Projektes und ein (meist) erfolgreiches Projektende bewusst zu erfassen. Dieser Multi-Tasking-Routine hat Corona, zumindest zeitweise, ein Ende gesetzt. Das Problem war so groß und dringlich, dass ich mich tatsächlich einmal auf eine einzige Sache konzentrieren konnte. Weil ich musste. Und das war eine Chance. Seitdem fällt es mir leichter, Dinge fokussiert anzugehen.

Herr Niedermaier, haben Sie in der Krise auch Chancen entdecken können?

A.N. Ja, aber auf ganz andere Weise. Ich denke da zuerst an die aktuelle Energiekrise. An die Abhängigkeit von russischem Gas, die wir jetzt schmerzhaft zu spüren bekommen haben. Und die wir überwinden müssen. Da bieten natürlich die von ENTEGA seit Jahren vorangetriebenen regenerativen Energiequellen eine riesige Chance. Aber auch ein Thema wie der Wasserstoff.

Noch vor einem Jahr hätten wir höchstens sehr theoretisch darüber gesprochen. Heute ist klar: Wir werden grünen Wasserstoff brauchen. Aber als Brückentechnologie auch den sogenannten blauen Wasserstoff, der aus Erdgas gewonnen wird. Ich erwarte auf diesem Gebiet eine deutliche Beschleunigung der Entwicklung.

Auf welche Weise kann auch eine ländliche Region wie der Odenwaldkreis davon profitieren?

A.N. Das ist gar keine Frage von Stadt oder Land. Hier geht es um die Zukunft der Energieversorgung schlechthin. Wir werden dafür nämlich auf absehbare Zeit immer auch moderne Gaskraftwerke benötigen. Einfach deshalb, weil die Regenerativen nicht zuverlässig zu jeder Zeit Energie liefern. Bei Dunkelheit, bei geringer Sonneneinstrahlung und bei Windstille müssen wir Gaskraftwerke zuschalten. Und auch diese Kraftwerke wollen wir natürlich möglichst klimafreundlich betreiben. Heute nutzen wir dafür Erdgas, zum Beispiel im Gasturbinen-Kraftwerk der ENTEGA. Schon bald könnte man dasselbe Kraftwerk aber mit gasförmigem Wasserstoff betreiben – und damit CO2-frei, wenn der Wasserstoff grün ist. Aber selbst bei blauem Wasserstoff würden wir die CO2-Bilanz deutlich verbessern.

Symbol für Weitblick und Veränderung: Rund um den mächtigen Bergfried der Burg Breuberg erstreckt sich die hügelige Landschaft des Odenwaldkreises. Über 800 Jahre Geschichte treffen hier auf eine lebendige Gegenwart. Wo früher Fürsten wohnten und Ritter tafelten, freuen sich heute Schulklassen über eine Jugendherberge und geben sich Paare das Ja-Wort.

F.M. Es freut mich, dass Sie die Kraftwerke ins Spiel bringen. Ich habe nämlich öfters den Eindruck, dass wir das Energiethema mit ideologischen Scheuklappen diskutieren. Natürlich wollen wir alle möglichst schnell möglichst viel CO2-freien Strom und Wärme. Wir können deshalb aber nicht von heute auf morgen alles abschalten, was nicht Wind oder Sonne heißt. Sicherheit ist für die Menschen auch wichtig in der Versorgung.

Und dafür brauchen wir die Kraftwerke. Wir brauchen aber auch eine Verlässlichkeit für jeden Einzelnen. Die momentane Diskussion, ob ich meine Öl- oder Gasheizung oder den Holzofen künftig noch betreiben darf, verunsichert die Menschen. Eine vernünftige politische Strategie wäre es in der derzeitigen Situation, ein stabiles Versorgungsfundament zu schaffen und erst, wenn dieses verlässlich funktioniert, Bewährtes nach und nach umzubauen, indem ich attraktive Fördermöglichkeiten schaffe und die Menschen dies dann freiwillig tun.

Aber ist es denn nicht wichtig, einen gewissen Veränderungsdruck aufzubauen, damit der Umbau Richtung Erneuerbare Fahrt aufnimmt?

F.M. Der Druck ist da. Und die Chancen zum Umbau sind auch da. Was uns bei der Wahrnehmung dieser Chancen aber vor allem behindert, das sind allzu zentralistische Vorgaben „von oben“. Hier bei uns im Odenwaldkreis könnten wir beispielsweise schon längst einen großen Schritt weiter sein bei der CO2- armen Wärmegewinnung, wenn wir Biomasse und Erdwärme stärker nutzen würden. Dafür bräuchten beide Technologien aber eine ähnlich gute Förderung, wie sie Wind und Sonne erfahren haben bzw. erfahren. Das ist aber politisch nicht gewollt, weil man sich in Berlin und auf Landesebene auf stromabhängige Wärmeversorgung zum Beispiel durch Wärmepumpen festgelegt hat. Würde man stattdessen den Regionen mehr Bewegungsspielraum lassen, kämen wir schneller und effizienter zum Ziel.

Wie sehen Sie das als regionaler Energieversorger?

A.N. Wir haben für diese Sichtweise durchaus Verständnis – auch, wenn wir als Unternehmen sicher nicht in jede vor Ort sinnvolle Insellösung investieren können. Aber ich bin sicher, dass solche Initiativen dennoch unterstützenswert sind. Sie können uns inspirieren. Es gibt hier in der Gegend zum Beispiel ein tolles Projekt zur Wärmegewinnung aus Holzhackschnitzel. Das hat mit der wichtigen Rolle der Forstwirtschaft hier zu tun. 60 Prozent der Fläche im Kreis bestehen aus Wald. Wenn da eine privatwirtschaftliche Initiative eine hocheffiziente Anlage auf die Beine stellt und damit fast alle Haushalte der Gegend versorgt, dann schauen wir uns das natürlich an und fragen uns, ob da vielleicht auch Chancen für uns drinstecken.

F.M. Damit wir uns richtig verstehen – ich bin zwar für regional angepasste Lösungen – zur Ergänzung einer Basisabdeckung. Alleine auf regionale Lösungen zu setzen wäre sicher nicht effizient. Und das Gegenteil von Versorgungssicherheit. Nur größere, regionale Energieversorger haben die Kompetenz und die Kapazität, bei Mangel-Lagen, wie wir sie jetzt im Kontext des Ukraine-Krieges zu befürchten hatten, schnell und sicher zu reagieren. Man stelle sich vor, statt der ENTEGA hätten wir in der Region Dutzende von kommunalen Insellösungen.

Wie hätten diese Betriebe denn – jeder für sich – Ersatz schaffen sollen für die eigene Produktion? Deshalb kommt es auf den guten, abgestimmten Mix und das Miteinander an. Dieses ist in unserer Region durch das gute Miteinander zwischen Kommunen und Energieversorger gewährleistet.

A.N. Und auch die Energiewende würde auf diese Weise sicher nicht schneller vorangehen. Es braucht schon ein abgestimmtes und fokussiertes Vorgehen, damit Chancen Wirklichkeit werden. Bei der ENTEGA haben wir uns zum Beispiel vorgenommen: Bis spätestens Ende des Jahrzehnts – wahrscheinlich aber schon früher – wollen wir den gesamten privaten Strombedarf der Region mit Erneuerbaren decken. Dazu müssen wir über eine Terawattstunde mithilfe von Wind und Sonne produzieren. Das schafft man nur gemeinsam.

,,Wasserstoff wird immer wichtiger werden.“
Andreas Niedermaier

,,Gemeinsam“ ist ein wichtiges Stichwort. Wie steht es denn um die öffentliche Akzeptanz, wenn es um den Neubau von Windrädern und Sonnenkollektoren geht? Stehen hier eher die Chancen oder eher die Risiken im Vordergrund?

F.M. Da müssen wir ehrlich sein. Viele Menschen tun sich schwer damit, wenn der Wandel ausgerechnet bei ihnen vor der Haustür beginnt. Das gilt besonders für die Windräder. Der Odenwaldkreis hat bereits vor Jahren eine mit allen Städten und Gemeinden abgestimmte Windkraftplanung auf den Weg gebracht – als erster Kreis in ganz Hessen. Diese Planung hatte eine hohe Akzeptanz, war aber in Wiesbaden nicht gewollt. Zudem entstehen bei der Windkraft, anders als bei anderen Energieformen, keine Arbeitsplätze vor Ort.

Ein Großteil der Gewinne wird von außen abgeschöpft. Auch dadurch entsteht keine Akzeptanz, insbesondere dann nicht, wenn der finanzielle Spielraum für die Kommunen durch immer neue Aufgaben längst nicht mehr gegeben ist. Gleichzeitig muss man sagen: Bisher ist es noch immer gelungen, gute Lösungen zu finden. Und die Windenergie ist ja auch nicht einzige Option. Viele Landwirte etwa interessieren sich für die Perspektive der Solarenergie. Hier sind echte Win-Win-Konstellationen denkbar, weil die Landwirtschaft ja unter hohem ökonomischem Druck steht. Wenn man sich vom Landwirt, neben der Landwirtschaft, auch zum Energiewirt entwickeln kann und sich damit ein weiteres Standbein schafft, indem man beispielsweise unwirtschaftliche Flächen für die Photovoltaik, aber auch den Anbau von Energiepflanzen umwidmet, kann da schon ein Schuh draus werden.

A.N. Das ist richtig. Und trotzdem bleibt das Thema Akzeptanz eine unserer größten Herausforderungen beim Ausbau der Erneuerbaren in der Region. Wir sind deshalb froh, dass wir ein so enges und intensives Verhältnis zu den politischen Entscheidungsträgern haben. Gerade dann, wenn es schwierig ist, kommt es darauf an, konstruktiv miteinander im Gespräch zu sein. Wir müssen es schaffen, den Umbau des Energiesystems in Deutschland, aber auch in Europa als Generationenaufgabe zu verstehen. Unsere Generation hat aus meiner Sicht die Pflicht, mit dem Umbau des Systems, Erzeugung und Verteilung, den Grundstein für folgende Generationen zu legen, um unsere Umwelt und damit die Menschen vor den Auswirkungen des Klimawandels zu schützen oder zumindest die negativen Auswirkungen zu begrenzen.

F.M. Das kann ich nur bestätigen. In dem vertrauten Miteinander mit der ENTEGA, ein Vertrauen, das sich über viele Jahrzehnte aufgebaut hat, weiß ich: Im Fall eines Falles gibt es eine Telefonnummer, die ich wähle und am anderen Ende ist jemand, der mich und meinen Kreis kennt und mit dem wir gemeinsam eine Lösung finden. Das ist äußerst wertvoll für uns.

,,Wir brauchen Verlässlichkeit
für jeden Einzelnen.“
Frank Matiaske

Zum Schluss, Herr Niedermaier: Welche Chancen sehen Sie ganz konkret für das laufende Jahr?

A.N. Auf der großen politischen Bühne hoffe ich auf eine Chance für Frieden durch Verhandlungen. Und hier in der Region bin ich zuversichtlich, dass wir neben der Energiewende und zu ihrem Nutzen vor allem die Digitalisierung weiter voranbringen. Denn auch dafür ist ENTEGA ja hier verantwortlich.

Sowohl beim Thema Glasfaserausbau als auch beim neuen 450-Mhz-Funknetz kommen wir gut voran. Besonders Letzteres ist wichtig, wenn man bedenkt, welche Chancen dadurch geschaffen werden. Zum einen im Notfall – denn das 450-Mhz-Funknetz funktioniert auch, wenn das herkömmliche Mobilfunknetz zusammenbricht, wie bei der Flutkatastrophe im Ahrtal geschehen. Es kann im Katastrophenfall sicherstellen, dass Feuerwehr, Katastrophenschutz oder andere Rettungskräfte kommunizieren können. Möglicherweise hätte der Schaden für Leib und Leben der Menschen im Ahrtal durch eine funktionierende Kommunikation der Rettungsdienste und der Verantwortlichen reduziert werden können. Und in normalen Zeiten ist es eine kostengünstige, energiesparende und reichweitenstarke Möglichkeit, viele „Dinge“ unseres Alltags miteinander zu vernetzen.

Insbesondere die Steuerung von stromerzeugenden Anlagen und Verbrauchern wird in Zukunft immer wichtiger, um die Stromnetze im Sinne einer hohen Verfügbarkeit der benötigten Energie für die Verbraucher sicherzustellen. Zu diesen Fragen erforschen und entwickeln wir im Sinne einer sicheren Energiezukunft auch neue Steuerungsmodelle. Das zeigt: Die Chancen sind da. Und wir nutzen sie auch.

Herr Niedermaier, Herr Matiaske – vielen Dank für das Gespräch.

Chancen sind wie ein offenes Buch –
es liegt an uns, ob wir es lesen.

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